Die kopernikanische Wende in der Kritik der reinen Vernunft
Kant untersucht in der Kritik der reinen Vernunft die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten und vollzieht hier seine revolutionäre, kopernikanische Wende.
Wie Kant selbst schreibt:
«Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte.
Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.
Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.»
Mit anderen Worten:
Wir Menschen haben in unserer Anschauung und in unserem Denken bestimmte Voraussetzungen. Und diese Voraussetzungen bestimmen, wie wir die Welt erkennen.
Wie die Welt, «das Ding an sich» aber unabhängig von diesen Voraussetzungen sei und was ein solcher Begriff überhaupt bedeutet, können wir nicht erkennen und nicht wissen.
Ein bis heute einleuchtendes Beispiel dafür sind Raum und Zeit:
Für Kant sind Raum und Zeit keine Dinge oder Gegenstände, sondern lediglich Formen unserer Anschauung, bzw. Voraussetzungen, damit wir überhaupt etwas wahrnehmen können.
Kant und die moderne Physik
Zwar hat die moderne Physik in den letzten 100 Jahren bedeutende Fortschritte in der Erklärung von Raum und Zeit, genauer: Raumzeit gezeigt. – Räume können nach moderner Auffassung gekrümmt werden und erzeugen so erst überhaupt Gravitation.
Beweist das nicht gerade Kant’s Darstellung in der Kritik der reinen Vernunft?
Nach wie vor können wir uns Raumkrümmungen, von denen die Physik ausgeht, nicht bildlich vorstellen. Es bleibt bei Bildern, wie sie im Cover dieses Hörbuches abgebildet sind: Die Raumkrümmung wird behelfsmässig über eine gekrümmte, aber nur zweidimensionale Fläche illustriert.
Verstandeskategorien: Voraussetzungen des Denkens
Die Idee, dass bestimmte Formen unsere Erkenntnis prägen, wendet Kant in der Kritik der reinen Vernunft nicht nur auf die Anschauung, bzw. Raum und Zeit an, sondern auch auf den Verstand.
Der Verstand kann nur innerhalb bestimmter Kategorien denken. Diese Kategorien lassen sich in vier Gruppen einteilen lassen: Quantität, Qualität, Relation und Modalität.
- Quantität: Einheit, Vielheit, Allheit
- Qualität: Realität, Negation, Limitation
- Relation: Substanz, Kausalität, Wechselwirkung
- Modalität: Möglichkeit, Dasein-Nichtsein, Notwendigkeit-Zufälligkeit
Ein unerhörter Gedanke:
Realität, Einheit, Substanz sollen «nur» Verstandeskategorien sein?
Welt, Materie, Freiheit & Gott in der Kritik der reinen Vernunft
Im dritten Teil der Kritik der reinen Vernunft wendet sich Kant vier großen Fragen der Philosophie zu:
1.) Hat die Welt Anfang und Ende, oder ist das Universum unendlich groß?
2.) Ist Materie aus einfachen Teilen, z.B. Atomen zusammengesetzt, oder lassen sich Teilchen unendlich lange teilen?
3.) Ist alles, was wir tun, von Naturgesetzen vorherbestimmt? Oder gibt es echte Willensfreiheit?
4.) Gibt es Gott, also ein schlichtweg notwendiges Wesen, eine erste Ursache, oder gibt es Gott nicht?
Diese Fragen werden nun vor dem Hintergrund der kopernikanischen Wende diskutiert und der Idee, dass unsere Erkenntnis von Anschauungsformen und Verstandeskategorien bestimmt ist.
Nur durch das Zusammenspiel von Anschauung und Verstand ist Erkennen möglich.
Das Problem der vier oben genannten Fragen: Sie sind unbeantwortbar.
Grund:
Es gibt keine Anschauung, die eine Antwort als Erkenntnis oder Wissen festigen könnte.
Die Vernunft macht sich selbständig, indem sie die Verstandeskategorien ohne Anschauung für scheinbare Erkenntnis ausgibt.
Konsequenz:
Es gibt für jeweils beide Möglichkeiten in jeder Frage Argumente und Gegenargumente.
Wie Kant schreibt:
«Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.»
Freiheit und Gott: Voraussetzung moralischen Handelns
Freiheit und Gott sind in der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr Gegenstände der Erkenntnis.
Und doch:
Sie sind für Kant Voraussetzungen, um moralisches Handeln zu ermöglichen.
Nur wenn man Freiheit voraussetzt, kann man Verantwortung haben.
«Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, (…)»
Einfluss der Kritik der reinen Vernunft
Der Einfluss der Kritik der reinen Vernunft auf die kommenden zweihundert Jahre westlicher Kulturgeschichte ist kaum zu übertreffen:
Hier wird konsequent der Mensch selbst in das Zentrum der Untersuchungen gestellt; nicht mehr nur als «Gegenstand» in der Natur, sondern als das die Natur selbst in den Formen seines Erkenntnisvermögens schaffende Prinzip.
Natürlich wurde Kant in den folgenden 200 Jahren von allen Seiten weiter bearbeitet, relativiert, kritisiert, widerlegt oder in noch fundamentalere menschliche Bedingungen, z.B. Sprache, Kultur, Geschichte übersetzt.
Seine revolutionäre Idee, den Menschen selbst als Ausgangspunkt für die Sicht, bzw. Schaffung der Welt zu setzen, hat letztlich zu unzähligen Errungenschaften in Philosophie, Psychologie, Kulturwissenschaften und selbst auch Naturwissenschaften geführt.
Weitere Informationen
Mehr Informationen zur Kritik der reinen Vernunft findest Du auf Wikipedia.
Wir empfehlen zur Lektüre der KrV die Ausgabe des Meiner Verlages für Philosophie.
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